Islamisches Verfahren

Aus Scriptorium

Das Opfer eines Rechtsbruches war selber dafür verantwortlich, gegenüber dem Rechtsbrecher vorm Gericht des Qadi eine Anklage zu bringen. Alternativ dazu konnte es auch sein nächster Angehöriger (sein "Bluträcher") bringen. Wenn keiner existierte, konnte als letzte Instanz der Muhtasib gegen einen Mörder angehen; er brachte auch Anklagen gegen Verbrecher an der staatlichen Ordnung (zum Beispiel Hochverräter). Sowohl privat- wie auch strafrechtliche Anklagen werden nach diesem Muster ausgeführt.

Die klassische Scharia war darauf bedacht, dass die Parteien einer klaren und gründlichen Rechtsprozedur folgten. Der Angeklagte hatte das Recht darauf, zu schweigen, und die Maxim, dass im Recht für den Angeklagten zu entscheiden war, wurde strikt eingehalten. Der Kläger musste dem Angeklagten vor der Erhebung der Klage darüber Bescheid geben, und das Gericht musste fair und öffentlich sein. Ein befangener Richter durfte nicht zu Gericht sitzen. Es gab keine Schöffen, die als Jury fungierten. Beide Parteien hatten das Recht auf einen Anwalt, aber normalerweise vertraten Kläger und Angeklagter sich selber.

Während des Verfahrens befragte der Richter den Angeklagten über die Anschuldigung. Wenn dieser auf "nicht schuldig" plädierte, so lag die Beweislast auf dem Kläger - dieser musste nun seine Beweise präsentieren. Zumeist wurde ein solcher Beweis erbracht durch 2 Zeugen mit gutem Leumund - 4 bei Anklagen wegen ehelicher Untreue (was bedeutete, dass eine solche Anklage kaum je erfolgreich war). Bloße Indizien wurden als Beweis nicht zugelassen, Dokumente nur in Ausnahmefällen. Die Zeugen waren normalerweise Männer, aber der Richter konnte auch Frauen als Zeugen zulassen (er war dazu verpflichtet in Bereichen, wo Frauen spezielles Wissen besaßen, zum Beispiel bei der Geburt). In solchen Fällen wurden zwei Frauen für jeden männlichen Zeugen benötigt. Wenn der Ankläger seine Zeugen vorgebracht hatte, musste der Angeklagte die seinigen vorbringen. Wenn er gleich viele Zeugen wie der Ankläger vorbrachte, so wurde seine Unschuld angenommen. Der Ankläger konnte aber auch andere Beweismaterialien vorbringen, die seine Unschuld bezeugen konnten.

Wenn der Kläger keine Zeugen vorbringen konnte, konnte er verlangen, dass der Angeklagte einen Eid auf den Koran abgibt, dass er unschuldig ist. Wenn der Angeklagte dies tat, so erklärte ihn der Richter für unschuldig. Wenn er sich weigerte, den Eid abzugeben, so gewann der Kläger.

Ebenfalls konnte der Angeklagte seinen Rechtsverstoß gestehen. Dies konnte zu einem minderen Strafmaß führen.

In allen Fällen musste die Beweisführung "eindeutig" sein, bevor der Richter ein Urteil fällte.